Befreiung von einer Maßfestsetzung kann rechtswidrig sein
Ein Nachbar kann in seinen Rechten verletzt werden, wenn ein Bauprojekt Maßfestsetzungen im Bebauungsplan überschreitet und der Plangeber die Betroffenen damit in ein Austauschverhältnis einbinden wollte. (OVG Hamburg, Beschluss vom 15. Juni 2019, Az. 2 Bs 100/19)
DER FALL
Ein Grundstückseigentümer stellte einen Eilantrag gegen ein Bauvorhaben auf dem Nachbargrundstück am Blankeneser Elbhang. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der auf allen Seiten Baugrenzen setzt und darauf abzielt, die Struktur des Plangebiets zu erhalten. Der Nachbar argumentiert unter anderem, dass er in seinen Rechten verletzt wird, weil durch das Bauvorhaben eine Baugrenze überschritten wird – und damit eine Festsetzung im Bebauungsplan zum Maß der baulichen Nutzung. Das VG Hamburg lehnte den Antrag noch ab, das OVG Hamburg hat der Beschwerde aber stattgegeben.
DIE FOLGEN
Nach herkömmlichem Verständnis sind Festsetzungen der Art der Bebauung kraft Bundesrecht drittschützend. Ein Nachbar kann sich dann mit Bezug auf den Gebietserhaltungsanspruch gegen ein Bauvorhaben wehren. Geht es dagegen um das Maß der Bebauung, setzt ein Drittschutz einen entsprechenden Willen des Plangebers voraus. Dieses Prinzip ist ins Wanken geraten, seit das BVerwG in dem kontrovers diskutierten Wannsee-Urteil auch Maßfestsetzungen einen Drittschutz zugesprochen hat, wenn sie die Betroffenen in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbinden („Befreiung von altem Bebauungsplan kann rechtswidrig sein“, IZ 1-2/2019). Das OVG Hamburg überträgt nun das Wannsee-Urteil, das sich auf einen übergeleiteten Bebauungsplan aus dem Jahr 1959 bezieht, auf aktuelle Bebauungspläne.
WAS IST ZU TUN?
Die Entscheidung führt zu einer Ausweitung des baurechtlichen Drittschutzes und einiger Rechtsunsicherheit. Bislang konnten sich in der Regel nur unmittelbar betroffene Nachbarn über das Rücksichtnahmegebot gegen Maßfestsetzungen wenden. Nun ist bei jeder Maßfestsetzung zu fragen, ob sie die Planbetroffenen in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbindet. Rechtssicher handhabbare Kriterien, wann das der Fall ist, scheinen in weiter Ferne. Der Hinweis des OVG Hamburg, die Maßfestsetzungen müssten „den besonderen Gebietscharakter formen“ und „derartiges Gewicht haben, dass zur Wahrung des erzielten Ausgleichs ein Eingreifen der Nachbarn auch ohne konkrete Beeinträchtigung notwendig erscheint“, hilft nur bedingt weiter. In der Praxis dürfte dies dazu führen, dass Genehmigungsbehörden Befreiungen vom Bebauungsplan zurückhaltender gewähren und sorgfältiger abwägen. Investoren sollten sich nicht ohne weiteres darauf verlassen, dass großzügig gewährte Befreiungen nicht angegriffen werden. Das Bauen – gerade im Rahmen einer Nachverdichtung des städtischen Raums – wird insgesamt nicht leichter.
(Quelle: Immobilien Zeitung 7.11.2019, Ausgabe 45/2019)