Eigenbedarf allein rechtfertigt keine Zwangsräumung

13. Januar 2020

Soll eine Räumungsvollstreckung einstweilig eingestellt werden, müssen die Interessen von Vermieter und Mieter gegeneinander abgewogen werden. Das Vermieterinteresse hat nicht generell Vorrang. (LG Berlin, Beschluss vom 15. August 2019, Az. 65 S 159/19)

DER FALL
Die Vermieterin einer Wohnung in Berlin hat das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs gekündigt und auf Räumung geklagt. Die Tochter der Vermieterin möchte die Wohnung für zwei Wochen zu wissenschaftlichen Zwecken und später für weitere Aufenthalte nutzen, ihren Erstwohnsitz in London aber beibehalten. Auch die Vermieterin und ihr Mann wollen die Wohnung für Berlin-Besuche und Treffen mit der Tochter nutzen. Das Amtsgericht hielt die Kündigung für gerechtfertigt, verurteilte die Mieterin und erklärte das Räumungsurteil für vorläufig vollstreckbar. Die Mieterin, die weiterhin pünktlich ihre Miete bezahlt, beantragt, dass die Zwangsvollstreckung einstweilig eingestellt wird.

DIE FOLGEN
Das Landgericht stellt die Räumungsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung ein. Bei einer solchen Entscheidung müssen immer die Interessen von Schuldner und Gläubiger gegeneinander abgewogen und die Erfolgsaussichten der Berufung geprüft werden. Das Besitzrecht des Mieters ist als Eigentum im Sinne des Grundgesetzes zu werten, sodass die Eigentumsgarantie beide Parteien schützt. Vor allem wenn sich der Mieter vertragstreu verhält, hat er Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Dieser wäre eingeschränkt, wenn vollendete Tatsachen geschaffen würden, indem die Wohnung geräumt wird, bevor das Urteil rechtskräftig ist. Das Interesse des Vermieters, aus einem angefochtenen Urteil zu vollstrecken, hat nicht generell Vorrang vor dem Interesse des Mieters, seine Wohnung zu behalten. Der Tochter der Vermieterin ist es zumutbar, sich für Kurzaufenthalte eine andere Unterkunft zu suchen.

WAS IST ZU TUN?
Wird ein erstinstanzliches Urteil für vorläufig vollstreckbar erklärt, kann die Zwangsvollstreckung bis zur rechtskräftigen Entscheidung der höheren Instanz eingestellt werden (§§ 707, 719 ZPO). Voraussetzung ist, dass das Rechtsmittel – hier die Berufung – überhaupt zulässig ist und Erfolgsaussicht hat. Das Landgericht hätte die Berufung aufgrund des Akteninhalts ohne weitere Beweisaufnahme prüfen müssen. Bei Eigenbedarf ist zu berücksichtigen, dass dabei die Vorstellungen des Vermieters von einer angemessenen Wohnung und angemessener Nutzung zählen – und nicht die Vorstellungen Dritter. Eigenbedarf kann deshalb auch vorliegen, wenn die Wohnung nur als Zweitwohnung genutzt werden soll. Werden die Interessen der Parteien abgewogen, muss grundsätzlich dem Vollstreckungsinteresse des Gläubigers Vorrang gegeben werden. Die Auffassung des Landgerichts, dass das Gläubigerinteresse keinen generellen Vorrang hat, steht im Widerspruch zur Rechtsprechung der Obergerichte.

(Quelle: Immobilien Zeitung 9.1.2020, Ausgabe 1-2/2020)